Interview mit Michael Graef von der TM2.0, veröffentlicht am 16.03.2017

Die Sache mit dem Scheitern: Disruption und der Mittelstand

Für ihn fing alles mit dem ersten Walkman der Firma Sony an, welcher 1979 erst für Aufregung in seiner Nachbarschaft und kurz darauf für eine globale Revolution sorgte. Das Wort Disruption war – anders als heutzutage – damals freilich noch nicht in aller Munde.

Die Rede ist von Jens Wehrmann, den das Thema seit dieser Zeit nicht mehr losgelassen hat – weder als Enthusiast noch als Wissenschaftler, Unternehmer, Dozent und Autor. Der promovierte Wirtschaftsinformatiker und CEO der Mobile Software AG, der schon 2004 für ein Buch zum Thema Apps mit dem renommierten TARGION-Wissenschaftspreis für strategisches Informations- und IT-Management ausgezeichnet wurde, hat mehrere Firmen gegründet und war an der Entwicklung unzähliger mobiler Produkte und Apps beteiligt. Dabei hat er sich laut eigener Aussage mehr als einmal eine ‚blutige Nase‘ geholt.

Die TM 2.0 sprach mit Jens Wehrmann über den digitalen Wandel, die mobile Digitalisierung und die Frage, welchen kulturellen Wandel in Unternehmen beides nach sich zieht. Ein Thema, das besonders im Mittelstand eine wichtige Rolle spielt. Erst nach und nach tastet man sich hier an das heran, was als „Kultur des Scheiterns“ bezeichnet wird – Teil eines weltweiten Paradigmenwechsels, zu dem viele unterschiedliche Facetten gehören (Stichwort New Work): die Art wie immer seltener in festen Einheiten und stattdessen immer öfter projektbezogen in teilweise weltweit verteilten Teams gearbeitet wird, die sich grundlegend ändernden Formen der Kommunikation u. v. a. m.

TM 2.0: Herr Wehrmann, das viel zitierte Mantra aus dem Silicon-Valley, das es in verschiedenen Ausprägungen gibt, z. B. „Fail Fast, Fail Often“ oder „Fail Forward“, wird von manchen Experten als Teil eines Hypes bezeichnet. Nichtsdestoweniger kommt man an der Tatsache nicht vorbei, dass der sich verschärfende Wettbewerb Unternehmen dazu zwingt, sich heutzutage sehr viel dynamischer aufzustellen und die lieb gewonnene Routine ständig selbst infrage zu stellen – bevor es die Mitbewerber tun.

Mit ein Grund dafür, warum Unternehmen heute im Schnitt nicht mehr so alt werden wie früher. Im Zuge der Digitalisierung drängen nun zum Beispiel immer öfter branchenfremde Firmen (IT, Software) in die bestehenden Beziehungen zwischen Anbietern und Kunden und versuchen, dem jeweiligen „Natural Owner“ – beispielsweise Maschinenbauern – Teile der Wertschöpfung zu entreißen.

Es ist also leicht zu erkennen, dass langes Zuwarten keine Option mehr ist, dass andererseits das schnelle Aufgreifen neuer, nicht zur Kernkompetenz zählender Ideen ein anderes Mindset voraussetzt. Auch weil das Risiko von Fehlschlägen hierbei natürlich wesentlich höher ist.

Steht uns hierzulande die traditionell eher negative Bewertung von Scheitern ein Stück weit im Weg?

Jens Wehrmann: In Deutschland beobachte ich häufig eine im internationalen Vergleich unterentwickelte Risikobereitschaft. Vielen Unternehmen fehlt noch das Incentivierungssystem für positive Veränderung bzw. eine tragfähige Belohungskultur für Innovation abseits der ex ante definierten Erwartungshaltung.

„Das Wesen der Disruption ist […], dass bestehende Lösungen abgelöst und überflüssig, teilweise sogar vollständig zerschlagen werden.“

Vielmehr beobachte ich häufig noch Absicherungsstrategien bei Entscheidungen um Fehler zu vermeiden, die die eigene Beförderung in Gefahr bringen könnten.

Das Wesen der Disruption ist hingegen, dass bestehende Lösungen abgelöst und überflüssig, teilweise sogar vollständig zerschlagen werden. Das passt irgendwie nicht ganz zusammen.

Unternehmerisch halte ich die Stigmatisierung des Scheiterns tatsächlich für gefährlich. Deutschland braucht Unternehmer, die sich trauen. Nur wer sich nichts traut, scheitert auch nicht. Retrospektiv habe ich selbst beim Scheitern immer am meisten gelernt.

Übrigens: In der Produktentwicklung greift man sogar methodisch auf das Scheitern zurück. Definierte Erfolgskriterien lassen sich in der digitalen Welt häufig recht einfach messen: Wenn man die gesteckten Ziele nicht erreicht, kann man sich konstruktiv mit der Frage nach dem Warum auseinandersetzen. Häufig passiert das im Zusammenspiel mit Menschen, die spezielle Fähigkeiten haben, die man braucht, um komplexe technologische Situationen richtig einschätzen zu können.

TM 2.0: Was uns zur Frage der Kommunikation bringt. Wird anders kollaboriert, erfordert das auch andere Kanäle, z. B: Apps. Schließlich sorgt das hin und her über Dutzende E-Mails dafür, dass spätestens nach einigen Wochen niemand mehr den Überblick hat. Lähmend und zugleich ein handfestes Problem für die Compliance: Wer hat wann was freigegeben, entschieden, verworfen etc.

Jens Wehrmann: Ja, genau. Die Herausforderung bei der neuen mobilen Welt und der fortschreitenden Mobilisierung des beruflichen Alltags ist, dass die meisten Arbeitsprozesse vielschichtiger sind, als viele der einfachen Apps, mit denen wir tagtäglich beim Chatten und Checken unserer Mails umgeben sind. Wo früher Funktionen und Menüs im Zentrum des Geschehens standen, stehen heute Workflows, Prozesse und User Stories. Das ist eine substanzielle Veränderung. Das soll am besten alles genau so einfach funktionieren, wie man das von WhatsApp & Co. kennt …

TM 2.0: Gegenüber früheren Jahren haben wir allerdings heute den Vorteil, dass man über die Sinnfrage der Digitalisierung von Prozessen nicht mehr lange diskutieren muss. Die Frage des ob ist doch wohl inzwischen dem Wie und Wann gewichen.

Jens Wehrmann: Ja, bzw. der Frage des Was. Aus meiner Brille hinkt Deutschland bei der Digitalisierung hinter anderen Ländern hinterher. Die meisten Firmen wissen nicht, was sie wollen. Zugegeben, das ist der mit Abstand schwerste Teil der digitalen Transformation. Thorsten Dirks, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Telefónica Deutschland Holding, hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Wenn Sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“ Es geht also darum, sich auf die Suche nach Neuem zu machen. Die Transformation von Altbeständen ist in der Regel kaum die Antwort. Das heißt umdenken. Das bedeutet Veränderung.

Ein bewährter erster Schritt ist es, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wo man hin will. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es unglaublich schwer ist, hier zu einer tragfähigen Einschätzung zu kommen, wenn man bezüglich der Möglichkeiten von Technologie und Markt nur mutmaßen kann. Insbesondere beim Thema Apps, gibt es noch viele Missverständnisse. Hier ist es sinnvoll, auf erfahrene Experten von außen zurückzugreifen. Zusätzlich ist es zur Erhöhung der firmeninternen Akzeptanz in der Regel hilfreich, in diesem Entstehungsprozess den eigenen Status quo einzubeziehen, um schnell mögliche Wege aufzuzeigen. Für diesen ersten Schritt ist viel interdisziplinäres Wissen erforderlich. Insbesondere bezüglich der Leistungsfähigkeit der eigenen Informationen (z. B. Content) und deren Aufbereitung für die Anwendung (z. B. Backend).

TM 2.0: Das klingt nicht gerade trivial.

Jens Wehrmann: Das ist es auch nicht. Sie dürfen ja nicht vergessen, häufig geht es hier um eine Operation am offenen Herzen. Einer meiner Automobilkunden hat es mal als einen Reifenwechsel bei Tempo 200 auf der linken Spur während eines Überholvorgangs umschrieben. Denn die Konkurrenz arbeitet ja auch weiter. Aber wer es letztlich schafft, die Potenziale zu nutzen, ist der König.

TM 2.0: Wo wir schon beim Thema Straße waren: Könnten Sie unseren Lesern zum Schluss ein paar Empfehlungen mit auf den Weg zum digitalen oder zumindest digitaleren Unternehmen geben?

Jens Wehrmann: Ohne eine grundsätzliche Bereitschaft bzw. Offenheit gegenüber Neuem lässt sich der digitale Wandel wohl nicht schaffen. Das impliziert eine Kultur des Hinterfragens und eine Organisationsstruktur, die mit Wandel umgehen kann. Viele Mittelständler müssen das noch lernen. Die mobile Digitalisierung ist in einem reinen Top-Down-Modell nicht mehr möglich. Man muss eine Änderung der Denkrichtung zulassen. Gerade die mobile Digitalisierung startet beim Anwender, also letztlich beim mobilen Endgerät des Benutzers. Das erfordert eine Bottom-Up-Denkweise.

Führungskräften, die vor dieser Herausforderung stehen, empfehle ich Sichtweisen und Erfahrungen von außen zuzulassen. Profitieren Sie von den Fehlern anderer und nähern Sie sich dem Thema sukzessive! Starten Sie klein und messen Sie Ihre Erfolge! Hängen Sie die Wasserfall-Denke an den Nagel und denken Sie agil! Eine Roadmap kann helfen, sich am Anfang auf das Wesentliche zu konzentrieren, den Kern zu greifen und Features, die man auch später nachziehen kann, nicht aus den Augen zu verlieren. Mobile Digitalisierung ist kein Projekt, was nach dem Launch einer App abgeschlossen ist.

TM 2.0: Herr Wehrmann, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Fragen stellte Michael Graef.

WEITERE QUELLEN:

www.mobile-software.de

www.tm20.de